Bevölkerungspolitik

Bevölkerungspolitik
1. Begriff: Gesamtheit zielgerichteter, staatlich-administrativer Maßnahmen, um eine Bevölkerung in ihrer Größe oder inneren Zusammensetzung zu verändern.
- 2. Maßnahmen: Sie gliedern sich in solche mit (1) direktem Bevölkerungsbezug, mit (2) indirektem Bevölkerungsbezug und in (3) bevölkerungsrelevante Maßnahmen. Die Übergänge zwischen (2) und (3) sind fließend. Sie sind nicht B. im engeren Sinn, beeinflussen aber den Bevölkerungsprozess in Form von Gesundheits-, Sozial- und Familienpolitik und mit Maßnahmen der Regional- und Siedlungspolitik. Sie haben Auswirkung auf Familiengründung, Kinderaufzucht und -erziehung, Lebenserwartung, sowie auf die räumliche Verteilung der Bevölkerung (Siedlungsdichte).
- a) Indirekte Maßnahmen legen ein bestimmtes demographisches Verhalten nahe, ohne dies aber zu betonen. Familienlastenausgleich, Bevorzugung von Paaren mit Kindern bei Wohnungszuteilung, die Einführung von Sexualunterricht und Familienerziehung, ebenso Heiratsdarlehen, die mit der jeweiligen Geburt eines Kindes sich verringern (Abkindern).
- b) Direkte B. bedeutet die Absicht eines Staates, sich ohne Umschweife zur Beeinflussung des Bevölkerungsprozesses zu bekennen. Dabei soll die Bevölkerungsgröße, je nach Staatsziel, vermehrt oder verringert werden. Bevölkerungsvermehrung ist über Einwanderung und/oder Anhebung des Geburtenniveaus (pronatalistische Politik) möglich. Bevölkerungsverringerung, eigentlich Senkung der jährlichen Zuwachsrate bzw. der Geborenenüberschüsse, ist über Familienplanungsprogramme zu erreichen, die die Paare überzeugen wollen, ihren Nachwuchs entsprechend der gesunkenen Kindersterblichkeit und den Familieneinkommen zu senken (antinatalistische Politik).
- 3. B. in der Dritten Welt: Darunter versteht man weitgehend eine quantitative, antinatalistische Politik der Familienplanung. Bevölkerungen der Dritten Welt stecken i.d.R. in der sog. Durststrecke des demographischen Übergangs, der umgangssprachlich mit Bevölkerungsexplosion bezeichnet wird ( Bevölkerungsexplosion,  Bevölkerungswachstum). Die einzelnen Staaten verfolgen unterschiedliche Maßnahmen, direkte bevölkerungspolitische Ziele, Gesundheit für Mutter und Kind, Familienplanungsprogramme, die im Gesundheitswesen installiert werden; Erfüllung eines Menschenrechts nach der Deklaration von Teheran 1967: Die Eltern haben danach das unveräußerliche Recht, die Zahl ihrer Kinder und den Zeitabstand ihrer Geburt zu bestimmen. Dieses Menschenrecht wirkt weltweit geburtensenkend, weil nur wenige Länder ihre Bevölkerungszahl erhöhen wollen, z.B. Malaysia, Argentinien, einige arabische Monarchien.
- 4. Positionen: Das Für und Wider um das Malthussche  Bevölkerungsgesetz hat schon gezeigt, dass die Bevölkerungsfrage insgesamt und die B. im Besonderen von außerwissenschaftlichen Bestrebungen beeinflusst oder gar beherrscht wird. Weltanschauungen und Staatsgrundsätze kommen ständig zum Vorschein. Die zwei gegensätzlichen Standpunkte um das angemessene politische Handeln umfassen zum einen eine pessimistische Politik der Bevölkerungskontrolle und zum andern eine Politik des Entwicklungsoptimismus, die glaubt, ohne Maßnahmen der B. auskommen zu können.
- a) Bevölkerungkontrolle: Die Politik vorrangiger Bevölkerungskontrolle unterstellt, dass starkes Bevölkerungswachstum der entscheidende Hemmschuh für wirtschaftliche Entwicklung wäre. Ohne eine Geburtenminderung wäre der Teufelskreis der Armut nicht zu durchbrechen. Darin drückt sich ein Bevölkerungspessimismus aus, der auf Malthus zurückgeht und bis in die ersten Berichte an den Club of Rome nachweisbar ist. Ihm liegt das Kalkül zugrunde, dass mit verhinderten überzähligen Geburten Staat und Familien nun Mittel in die Hand bekämen, die zu Entwicklungsinvestitionen werden könnten. Außerdem wird nachgewiesen, dass die Frauen mehr Kinder zur Welt bringen, als sie eigentlich wollen, und dass es nur recht und billig wäre, das Elternrecht auf die Zahl erwünschter Kinder durchzusetzen und unerwünschte Schwangerschaften nicht eintreten zu lassen.
- b) Entwicklungsoptimismus: Vertreter diese Konzepts wollen die Wirtschaftsentwicklung so forcieren, dass selbst eine wachsende Bevölkerung sich integrieren ließe. Dies gilt jedoch nur, wenn vom Anstieg des Bruttonationaleinkommen v.a. die kinderreichen kleinbäuerlichen Schichten profitieren. Nur dann ist Elternschaft ein Anreiz für geistige und ökonomische Anstrengungen; nur dann erwüchsen die Kräfte zur Entschärfung des Bevölkerungsproblems aus ihm selbst.
- Probleme: (1) Bevölkerung ist eine Ganzheit mit einem gewissen Eigenleben, die sich den Bewegungen marktwirtschaftlicher Mengenanpassung in absehbarer Zeit nicht anpasst. (2) An der Übertragbarkeit westlicher industrieller Dynamik auf weite Teile der Dritten Welt wird in der Fachwelt gezweifelt. Die asiatischen Erfolgsinseln (Singapur, Hongkong, Taiwan, Südkorea) lassen sich nicht schlagartig vermehren. Simon rechnet mit einem Zeitraum von 60 Jahren, bis die beschworenen Wirtschaftsfortschritte die gravierenden Bevölkerungsprobleme lösen. In 60 Jahren verdoppelt die Dritte Welt ihre Bevölkerungen. Dabei bleiben wesentliche Unterschiede zwischen der bisherigen Entwicklung in Europa und der zukünftigen Entwicklung in der Dritten Welt unberücksichtigt, die die Idee einer demographisch-ökonomischen Selbstregulierung dort ad absurdum führen dürften: Die europäische Entwicklung ist eine eigenständige gewesen, d.h. sie hatte vier bis fünf Generationen Zeit, um mit den Gleichgewichtsstörungen zwischen Bevölkerung und Wirtschaft fertig zu werden. Das demographische Übergangswachstum erreichte nur kurzfristig mehr als ein Prozent. Die durchschnittliche Wachstumsrate lag um 0,7 Prozent. In den Entwicklungsländern heute sind jährliche Zuwächse zwischen zwei und vier Prozent üblich. Der offenkundigste Unterschied zwischen dem Europa vor der Industrialisierung und der Dritten Welt heute liegt in den Bevölkerungsgrößen. In Asien z.B. finden wir gegenwärtig das Zehn- bis Zwanzigfache von Bevölkerungsvolumina der Alten Welt. Wenn der europäische Weg etwas lehrt, dann nur, dass sich Bevölkerungsstruktur, Wirtschafts- und Sozialstruktur wechselseitig beeinflussen, sich aufeinander abstimmen im Sinn einer geschichtlichen Tendenz, die wir Modernisierung nennen. Wenn langsames Bevölkerungswachstum und sozio-ökonomische Entwicklung schrittweise ineinander greifen müssen, um ein industrielles Niveau zu erreichen, und dies in Europa schon nicht ohne soziale Brüche und Konflikte abging, dann geht die Dritte Welt einen schweren Gang. Dabei ist die Frage, welche Form der Industrialisierung diese Länder wählen werden, noch nicht zu beantworten. Europa ist nur sehr bedingt ein Modell für die heutigen Entwicklungsländer. Diese Debatte darüber, ob von Bevölkerungsseite oder von Wirtschaftsseite her zu helfen sei, trägt die Züge eines innereuropäischen Dogmenstreites, eines Streites der Geberländer unter sich. Die Erfahrungen der Entwicklungsländer selbst zeigen, dass nur dort ein Erfolg sich einstellte, wo nicht einseitig auf Bevölkerungskontrolle oder Wirtschaftsinvestitionen gesetzt wurde, sondern eine planerische Integration beider Handlungsbereiche rechtzeitig vorgenommen wurde. Die Integration von bevölkerungspolitischen Zielen in die Entwicklungspläne ist allein Erfolg versprechend. Diese schon auf der Weltbevölkerungskonferenz von Bukarest 1974 vorgebrachte Feststellung („Botschaft von Bukarest“) war in die Mühlen wissenschaftlicher Dogmatik und politischer Interessen von Geber- und Nehmerorganisationen geraten. Heute hat sich durchgesetzt, dass dem exorbitanten Wachstum der Übergangsphase nur mit eindämmender Familienplanung beizukommen ist, und das erst in den Vollendungsphasen des demographischen Übergangs eine Liberalisierung Platz greifen sollte.

Lexikon der Economics. 2013.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Bevölkerungspolitik — ist ein politologischer Begriff, der die Politik von Staaten oder Interessensgruppen, die darauf gerichtet ist, die Einwohnerzahl und die Bevölkerungsstruktur der in einem bestimmten Gebiet lebenden Bevölkerung zu beeinflussen, analysiert.… …   Deutsch Wikipedia

  • Bevölkerungspolitik — s. Bevölkerung …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Bevölkerungspolitik — Bevölkerungspolitik, die Lehre von den Aufgaben und Mitteln der Staatsgewalt, auf die Bevölkerungsverhältnisse eines Landes bestimmend einzuwirken. – Vgl. Lexis (1875), von Fircks (1898) …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Bevölkerungspolitik — Be|vọ̈l|ke|rungs|po|li|tik 〈f.; ; unz.〉 Politik, die Größe od. Zusammensetzung einer Bevölkerung zu beeinflussen sucht * * * Be|vọ̈l|ke|rungs|po|li|tik, die: Gesamtheit der politischen Maßnahmen zur Beeinflussung des Wachstums od. der… …   Universal-Lexikon

  • Bevölkerungspolitik — Bevölkerungspolitikf Bevölkerungspolitiktreiben=Nachwuchszeugen;schwangersein.1933ff …   Wörterbuch der deutschen Umgangssprache

  • Bevölkerungspolitik — Be|vọ̈l|ke|rungs|po|li|tik …   Die deutsche Rechtschreibung

  • antinatalistische Politik — ⇡ Bevölkerungspolitik …   Lexikon der Economics

  • pronatalistische Politik — ⇡ Bevölkerungspolitik …   Lexikon der Economics

  • Bevölkerungskontrolle — ⇡ Bevölkerungspolitik …   Lexikon der Economics

  • Dritte Welt — ⇡ Bevölkerungspolitik …   Lexikon der Economics

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”